Konfessionsfreier Seelsorger, ehemaliger Benediktinermönch (1959-2015) und Priester
Krankheit und Heilung
Ich bin nie nur gesund und nie nur krank. Ich trage stets beides in mir: Gesundheit und Krankheit, wenn auch in unterschiedlichen und wechselnden Gewichtungen. Ich kann die Krankheit zurückdrängen, indem ich ihre Symptome und Ursachen bekämpfe. Ich kann aber auch die Heilung befördern, indem ich die Gesundheit stärke. Nach einem Grundsatz des HUNA, so sagt Ligia, gilt: „Energie folgt Aufmerksamkeit.“ Demnach kann die Bekämpfung der Krankheit und ihrer Symptome kranker machen. Meine Gesundheit stärke ich, indem ich mich auf meine Gesundheit fokussiere.
Das Miteinander von Gesundheit und Krankheit darf ich mir jedoch nicht als ein Nebeneinander auf gleicher Grundlage vorstellen. Krankheit hat ihre Ursachen in der Vergangenheit, Gesundheit in der Gegenwart. Jedenfalls gibt es die Auffassung, dass auch neu auftretende Krankheiten, sogar Unfälle, ihre eigentliche Ursache in der Vergangenheit haben. Gesundheit dagegen ist neues Leben, wie es mir im Hier und Jetzt geschenkt wird. Gesund bin und werde ich dann, wenn ich mich ganz aus dem löse, was war, und mich ungeteilt einlasse auf das, was mir hier und jetzt begegnet und geschenkt wird.
Ein Bild für diesen Unterschied ist die Gestalt einer Flamme im Vergleich zur Gestalt eines festen Gegenstandes. Die Flamme empfängt ihre Gestalt, solange sie nicht erlischt, stets neu im Hier und Jetzt. Ein fester Gegenstand hat sie in der Vergangenheit empfangen. Gesundes Leben ist wie eine Flamme: es entsteht stets neu im Hier und Jetzt und wahrt gerade so sein Gleichgewicht und seine Gestalt.
So gesehen ist Sterben nicht das Ende, sondern die Bedingung und der Ort des Lebens. Im Sterben überlasse ich, was war, der Vergangenheit und öffne mich so neu für das Hier und Jetzt. Demgegenüber ist der Tod das Ende bzw. die Abwesenheit des Lebens, die Erstarrung, die Festlegung auf das, was war.
So gesehen ist Leben geradezu das Gegenteil von Überleben. Wer überleben will, hält fest an dem Leben, das er jetzt zu haben meint. Damit legt er sich fest auf die Vergangenheit und schneidet sich ab von der schöpferischen Neuheit des Lebens. Er sucht aus den Ressourcen zu schöpfen, die ihm neben seiner Krankheit noch geblieben sind. Aber da diese sich nicht erneuern, erschöpfen sie sich – und was bleibt, ist die Krankheit.
Salutogenese muss daher etwas anderes heißen als nur die Aktivierung des Restes der noch vorhandenen Ressourcen. Ich muss den Schritt über die Grenze meiner Ressourcen gehen, wo ich nicht mehr aus dem schöpfe, was ich habe, sondern mich dem öffne, was mir von jenseits meiner selbst an Leben, Kraft, Einsicht und Licht, an Freude und Liebe zuströmt. So entzündet sich in mir die Flamme neuen, gesunden Lebens.
So gesehen halte ich mich, wenn ich mich für Heilung und Leben öffne, nicht angsthaft an dem Leben, das ich noch habe, fest, versuche nicht, dadurch dem drohenden Ende des Lebens zu trotzen. Ich tue, wie im Sterben, den Schritt über alles hinaus, was mein bisheriges Leben war, und öffne mich in Vertrauen für das, was mir jenseits davon, unerahnbar, an neuem Leben geschenkt wird.
Dies verlangt den Mut, mit dem Petrus das Boot auf der stürmischen See verließ, um auf den zuzugehen, der wie ein lebensbedrohliches Gespenst über die Wellen auf ihn zukam. Es ist immer wieder neu wie bei der Flucht des Lot aus seiner dem Untergang verfallenen Stadt: „Dreh dich nicht um!“ hieß es; seine Frau, die es tat, erstarrte zur Salzsäule. - Es ist das immer neue Sterben zum Leben.
Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. - Phil. 3,13